DR. GÉRARD ANACLET-VINCENT ENCAUSSE (1865-1916)


Papus, mit weltlichem Namen Dr. Gérard Anaclet-Vincent Encausse, kann man zweifellos als die beherrschende Gestalt der Esoterik im Frankreich der Jahrhundertwende ansprechen. Der zeitgenössische Chemiker und Alchimist Jollivet-Castelot nannte ihn sogar den »außergewöhnlichsten und tiefsten Magier unserer Epoche« und wegen der Fülle seiner Schriften verlieh er ihm noch den Ehrentitel eines »Balzac des Okkultismus«.

Die Papus-Bibliographie umfasst unglaubliche 260 Nummern, darunter 25 große Werke, wobei die vielen Zeitschriftenartikel zusammengefasst und nicht einzeln nummeriert sind. Darunter befindet sich auch der 1.100-seitige Traité méthodique de Science occulte (1891), den der Fachkenner Pierre A. Riffard als eines der zwölf wichtigsten je geschriebenen Sachwerke der abendländischen Esoterik bezeichnet. Und seine Bücher über die Kabbala sowie den Tarot haben neben seinen groß angelegten Synthesen zu verschiedenen okkulten Themen wahrlich esoterische Geschichte gemacht und sind daher bis auf den heutigen Tag immer wieder neu aufgelegt und zudem in zahlreiche Sprachen übersetzt worden. Die dort erstmals erfolgte Zuordnung der vier Buchstaben des quabbalistischen Tetragrammaton zu den vier Kartenfarben des Tarot war der entscheidende Gedanke, der den heute so gebräuchlichen Zusammenhang zwischen Quabbalah und Tarot erst ermöglicht hat. Er hat dadurch entscheidend die nachfolgende Literatur über das Tarot geprägt. Das Talent von Papus zur Popularisierung und Verständlichmachung ungewöhnlicher Ideen ist unbestritten.

Literaturnobelpreisträger Anatole France wiederum forderte in einem Interview für Papus sogar einen Lehrstuhl für Magie am ehrwürdigen Collège de France. Gleichzeitig kann Papus als Neubegründer der hermetischen Medizin angesprochen werden, ebenso wie er die magnetischen Therapien neu aufleben ließ. Zu alledem schuf er mehrere wichtige okkulte Gruppierungen und wesentliche esoterische Zeitschriften. Die Liste seiner Titel und Mitgliedschaften im freimaurerischen Umkreis ist beinahe eine Seite lang.

Am russischen Zarenhof brachte er es zum einflussreichen Berater sowie persönlichen Freund der Zarenfamilie und auch auf den Balkan erstreckten sich seine Beziehungen. Papus ist so bekannt geworden, dass ihn selbst ein Umberto Eco in seinen Bestseller Das Foucaultsche Pendel aufnahm, wenn auch nicht in einem besonders positiven Kontext. Da konnte es nicht ausbleiben, dass es über die zahlreichen (auch deutschen) Zeitschriftenartikel hinaus auch schon ein paar Biographien in Buchform von ihm gibt. Zu erwähnen sind G. Phanegs Le Docteur Papus (Paris 1909) und die auch akademischen Ansprüchen genügende von Marie-Sophie André und Christophe Beaufils mit dem Titel Papus, biographie (Paris 1995).

Bezüglich seiner Biographie werden wir uns durchgehend an das letztgenannte Buch halten, da es detailliert ist und vor allem Material verwendet, das von anderen Autoren nicht benutzt wurde. Zudem darf man nicht vergessen, dass es sich bei Philippe Encausse um den Sohn und Nachfolger von Papus als Haupt des Martinistenordens und bei Phaneg um einen engen Anhänger handelt, so dass in ihren Biographien naturgemäß die »Schattenseiten« Papus' etwas zu kurz kommen.

Allerdings ist Philippe Encausse augenscheinlich um Objektivität bemüht. So meint er, dass sein Vater zwar nicht die Kultur und Gelehrsamkeit eines Eliphas Lévi, eines Saint-Yves d' Alveydre oder eines Charles Barlet aufgewiesen hätte (darüber ließe sich dennoch streiten), aber dafür ein genialer Realisator und Organisator gewesen sei. Er sieht in ihm ganz besonders den Vertreter eines christlichen Spiritualismus, dessen höchstes Ziel in einer Harmonie von Glauben und Wissenschaft lag, was er auch zustande gebracht hätte.

Interessant ist die Geschichte, wie Frau André an die zahlreichen Dokumente aus erster Hand gekommen ist, die sie laufend zitiert. Bei einem Spaziergang vorbei an einer ehemaligen Wohnstätte von Philippe Encausse sah sie die Abfallkübel mit augenscheinlich älteren Briefen, Broschüren und Dokumenten überborden. Interessiert trat sie näher und erkannte Originalbriefe und Dokumente von Papus (sie studierte an einem der Sorbonne angeschlossenen universitären Institut unter Antoine Faivre die esoterischen Strömungen der Neuzeit) und rettete sie. Gemeinsam mit den im Fond Papus in Lyon erhaltenen Dokumenten erarbeitete sie dann ihr Werk. Des Ausgleichs wegen soll erwähnt werden, dass Robert Amadou in seinem Werk A deux amis an dieser Version einige Zweifel hegt, da die Angaben von Frau André zu ungenau seien. Dieser Zweifel betrifft allerdings nicht die Echtheit der Dokumente, die unbestritten ist. Vor allem weist Amadou zurück, dass Philippe Encausse, der zum Zeitpunkt des Auffindens der Dokumente schon lange tot war, irgendwie versucht hätte, diese für Papus nicht immer schmeichelhaften Dokumente auf die Seite zu schaffen und sie deshalb in einer alten Wohnung aufbewahrte. Denn es bleibt eigenartig, dass er gerade diese Schriftstücke nicht dem Fonds Papus in Lyon übergab so wie er es mit allen anderen Schriftstücken getan hatte.

Bei einer chronologischen Vorgehensweise besteht allerdings die Gefahr, dass ob all der Daten und Fakten der »emotionale« Anteil, also der »weiche« und wohlwollende Kern, der bei Papus unserer Meinung nach zweifelsohne ebenfalls bestanden hat, zu stark in den Hintergrund gerückt wird. Bei all dem gegebenen Machtstreben, das ihn auszeichnete, darf man seine Versuche, den Menschen (auch den Armen) Heilung oder zumindest Linderung zu verschaffen ebenso wenig vergessen, hielt er doch trotz all seiner Aktivitäten seine ärztliche Praxis bis 1914 offen und behandelte vielfach, ohne dafür bezahlt zu werden. Wollte man sich tatsächlich ein mehr oder weniger objektives Bild von Papus schaffen, wäre es wahrscheinlich am besten, das Buch von André/Beaufils und die Biographie von Philippe Encausse in Sciences occultes parallel zu lesen.

Doch nun zur Lebensgeschichte:
Gérard-Anaclet-Vincent Encausse wurde am 13. Juli 1865 in La Coruña in Spanien geboren. Von seiner Mutter ist nur der Name Irene Pérez-Vierra bekannt. Sein Vater Louis Encausse war ein Erfinder von medizinischen Apparaturen und Artikeln, die er auch vertrieb. Ob Louis Encausses Aufenthalt in Spanien mit dieser paramedizinischen Tätigkeit zusammenhing, bleibt allerdings unklar. Sicher scheint es jedenfalls zu sein, dass Papus nicht - so wie er es immer gerne andeutete - von Zigeunern abstammte, denen er eine große Weisheit zuschrieb. Ebenso wenig scheint er der brillante Schüler im Gymnasium gewesen zu sein, als der er vielfach dargestellt wurde, denn einmal musste er die Schule sogar verlassen. Von seinen Schulkollegen bekam er den Spitznamen Großmogul, was bereits auf sein früh entwickeltes Organisationstalent und seine Führerqualitäten hinweist. Aus seinen von Frau André geretteten Jugendtagebüchern wissen wir auch, dass er schon als Schüler überaus ehrgeizig gewesen sein muss, da er schon sehr früh herauszufinden versuchte, wie man Menschen beeinflussen und damit eine wichtigere Rolle übernehmen könne.

1884 erschien, von ihm selbst bezahlt, seine erste Broschüre unter dem Titel Hypothèses. Hier zeigt sich schon eine gewisse Wertschätzung einer noch unbewussten hermetischen Weltschau, denn er spricht von der grundlegenden Einheit der Natur und der Notwendigkeit der Rückkehr zu ihr. Allerdings weicht er dabei von einer rein materialistischen Basis noch nicht ab. Das Medizinstudium könnte er ergriffen haben, da sein Vater, der wegen mangelnder akademischer Ausbildung ja immer wieder Schwierigkeiten in seinem Arbeitsfeld hatte, es so wollte. Überdies genossen Mediziner seiner Zeit ein sehr hohes Ansehen.

Wann Gérard dann tatsächlich mit seinen okkulten Studien begann, lässt sich leider nicht mehr feststellen. Es könnte um 1885 gewesen sein. In der französischen Nationalbibliothek las er sich jedenfalls durch die damaligen okkulten Klassiker wie Hoëne-Wronski, Lacuria, Paul Christian und natürlich Eliphas Lévi, dem er sogar einen Brief zwecks Kontaktaufnahme schrieb, nicht wissend, dass dieser bereits im Jahre 1875 verstarb (hierbei sei auch kurz angemerkt, dass Papus eigenartigerweise vielfach als Schüler Eliphas Lévis bezeichnet wird, obwohl Papus im Todesjahr Lévis gerade mal 10 Jahre alt war (vgl. Horst E. Miers 1976)). Sein Medizinstudium verzögerte sich somit auch aufgrund seiner magisch-theoretischen Studien (hermetische, quabbalistische sowie alchemistische Texte).

Sein erster Kontakt zu magischen Gruppierungen dürfte - wie bei so vielen - die Theosophische Gesellschaft gewesen sein. 1887 wurde er dort aufgenommen, wo so berühmte Leute wie der Astronom und Spiritist Camille Flammarion, der Freund Eliphas Lévis Baron Spédalieri, der Autor Edouard Schuré und der künftige Biologie-Nobelpreisträger Charles Richet Mitglieder waren. Im Mitteilungsblatt der Gesellschaft, dem Lotus Rouge, erschien dann 1887 auch der erste von Gérard mit Papus gezeichnete Artikel. Das Pseudonym hatte er dem Nuktemeron des Apollonius von Tyana entnommen, das damals Eliphas Lévi publiziert hatte. Dabei handelt es sich um den Genius der ersten Stunde, der der Medizin zugeordnet ist. Im selben Jahr kam es auch zur ersten wirklich okkulten Broschüre von Papus über den zeitgenössischen Okkultismus. Es handelte sich dabei um die erweiterte Fassung einer Rede, die er in der Theosophischen Gesellschaft gehalten hatte. Kurz darauf folgte eine Übersetzung des berühmten quabbalistischen Textes des Sepher Jetzirah und noch im November 1887 erschien der Traité élémentaire de Science occulte, dessen Übersetzung als Die Grundlagen der okkulten Wissenschaft veröffentlich wurde.

Papus' Karriere begann damit unaufhaltsam zu werden. Ein Jahr später war er bereits Leiter der Theosophischen Gesellschaft in Frankreich, wenn dafür anscheinend auch etwas »politisches« Manövriergeschick vonnöten war. Zu diesem Zeitpunkt hatte er auch regelmäßige Mittagstreffen mit einer kleinen Runde, der Charles Maurras angehörte, der sehr prägnante, wenn auch umstrittene (das gehört wohl zusammen) Gründer der monarchistisch-katholischen Action Française. Dieser Kontakt verlor sich aber wiederum recht bald.

Ein Zwischenstopp seines Aufstiegs trat ein, als er zum Militär musste. Trotzdem er sich auf Ausnahmeregelungen berufen wollte, wurde er schließlich eingezogen und musste seine drei Pflichtjahre abdienen. Allerdings gelang es ihm, außergewöhnlich viele kürzere und längere Freistellungen zu erwirken. Ansonsten wäre es ihm unmöglich gewesen, während dieser Zeit okkulte Gruppierungen und Zeitschriften zu begründen, sowie mehrere umfangreiche Bücher zu schreiben. So entstand seine Zeitschrift L' Initiation, die mit Unterbrechungen bis heute fortlebt und bei der so berühmte Gestalten wie der Dichter Victor Emile Michelet, der Magier Stanislas de Guaita und der Künstler Joséphin Péladan mitarbeiteten. Schon bald fügt dort Papus seinem Namen die Abkürzung S.I. hinzu, was bedeutet, dass er sich als Supérieur Inconnu, also als sogenannter Unbekannter Oberer, im Martinistenorden betrachtete. Wann er Mitglied der Martinisten wurde, liegt im Unklaren. Seine des öfteren kolportierte (so von seinem Sohn Philippe) außergewöhnlich frühe (bereits im 17. Lebensjahr!) Einweihung in diesen Orden durch Henri Delaage dürfte höchstwahrscheinlich eine apokryphe Überlieferung sein.

Zur gleichen Zeit und ebenfalls an der Adresse des Martinistenordens entstand ein weiterer Orden christlich-quabbalistischer Ausrichtung, der sich auf Heinrich Khunraths Amphitheatrum sapientiae aeternae Amphitheatrum sapientiae aeternae Amphitheatrum sapientiae aeternae berief. Dieser Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix (Quabbalistischer Orden des Rosenkreuzes) war von dem Magier de Guaita und Péladan begründet worden, wobei die Mitglieder, so auch Papus, zum Großteil dieselben waren wie beim Martinistenorden. Eines der ersten Führungsmitglieder war Maurice Barrés, Gymnasiumskollege von de Guaita und später bekannter Politiker und Schriftsteller. Wegen seiner strengen katholischen Anschauungen verließ er aber den Orden recht bald wieder. Etwas später kam es dann durch Papus zur Bildung des Groupe Indépendant d'Etudes Esotériques (Unabhängige Gruppe esoterischer Studien), mit dem Gedanken, wiederum mehrere andere Zirkel in sich zu fassen, so den Groupe Maçonnique d'Etudes Initiatiques (Freimaurerische Gruppe für Initiatische Studien), der unter der Leitung des später bekannt gewordenen Oswald Wirth stand. Langsam begannen sich nun die Beziehungen zwischen Papus und der Theosophischen Gesellschaft zu verschlechtern, denn einerseits fühlte sich Papus in seinem Umfeld geistig den theosophischen Anschauungen überlegen und brachte das in seinen Artikeln auch zum Ausdruck und andererseits sah Frau Blavatsky, als Präsidentin der Theosophen, klar die Konkurrenz und organisatorische Machtkonzentration. Da Papus nun einer der Hoffnungsträger der französischen Theosophie war, wies ihn Frau Blavatsky höchstpersönlich in der zweiten Ausgabe der Revue Théosophique vorsichtig zurecht. Papus' Antwort darauf war hingegen weniger respektvoll. Zudem weigerte er sich kategorisch, irgend etwas von seinen Aussagen zurückzunehmen.

Anfang 1890 zog er sich dann von der Theosophischen Gesellschaft endgültig zurück, nachdem er sie schon vorher als eine Gemeinschaft von Betrügern bezeichnet hatte. Später sagte er dann, dass er so offensiv gegen die Theosophen vorgegangen sei, weil er den Auftrag bekommen hätte, diese Gruppierung wegen ihrer antichristlichen Haltung zu bekämpfen. Der Schlag für die Theosophische Gesellschaft war gewaltig und sehr lange konnte sie sich davon nicht erholen. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass Papus zum damaligen Zeitpunkt erst 25 Jahre(!) alt war. Neben L'Initiation hatte er noch weitere Zeitschriften begründet, nämlich Le Voile d' Isis, die später zu Etudes Traditionnelles mutierte und durch René Guénons geistiger Leitung großes Ansehen genoss, ebenso die Revue d'hypnologie. Etwas später gesellte sich noch Lumière d'Orient hinzu, die sich ausschließlich mit dem Islam und der Türkei auseinandersetzte, aber über zwei Nummern nicht hinauskam. Auch eine vorgängige Zeitschrift The Light of Paris hatte sich als Fehlschlag erwiesen.

Um 1890 kam es schließlich zum Bruch mit Joséphin Péladan, der wie Papus sehr expansiv war, so dass sie sich irgendwann zwangsläufig in die Quere kommen mussten. Péladan warf Papus überdies allzu große Popularisierung geheimen Wissens vor. Damit im Zusammenhang steht auch der sogenannte »Krieg der zwei Rosen«. Péladan hatte einen Ordre de la Rose-Croix Catholique (R+C+C) gegründet, der von Stanislas de Guaita und seinem Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix wegen Verwechslungsgefahr heftigst - auch mit magischen Mitteln - bekämpft wurde.

An die Stelle der Abgänge kamen aber andere Mitarbeiter und Helfer von nicht minderem Format, so Sédir (Yvon Le Loup), Jules Doinel, der später zum Patriarchen einer gnostischen Kirche wurde, und Marc Haven (Emmanuel Lalande). Um all den im Martinistenorden vereinigten Gruppen und den Neuzugängen eine solide theoretische Basis zu gewährleisten, wurde mit einer »Hermetischen Schule« begonnen, in der die in den alten Sprachen geschriebene Primärliteratur ausgewertet werden sollte. Überdies sollten die Geschichte der okkulten Wissenschaften, die hermetische Medizin, der Mediumismus, der Tod usw. erforscht werden. Daraus entwickelte sich dann die Freie Universität der höheren Studien, zu dessen Lehrkörper die Spitzen des Martinistenordens gehörten.

Der Groupe Indépendant d'Etudes Esotériques (GIEE) entwickelte sich höchst erfolgreich und eröffnete laufend neue Niederlassungen. Auch der Martinistenorden organisierte sich innerhalb und außerhalb Frankreichs, so unter anderem in Italien und Spanien. Eine wichtige Hilfe für Papus war dabei Anna de Wolska, mit der er zusammenlebte und die sich als seine beste Propagandistin erwies. Der schon erwähnte François Jollivet-Castelot stieß ebenfalls dazu und brachte sein spezielles alchimistisches Wissen (er selbst nannte es »hyperchimie«) ein. Eine Ausweitung des Martinistenordens nach Belgien führte zur Gründung von Kumris, einer Gemeinschaft, die später unter Georges Le Clement de Saint Marcq durch ihre sexualmagisch-»christlichen« Praktiken einen völlig anderen Verlauf nehmen sollte. Selbst in Übersee, nämlich in Argentinien und in den USA, kam es zur Bildung von Martinistenlogen.
Frau André zitiert auch einen Brief, wonach ein österreichisches Parlamentsmitglied, Baron Adolf Leonhardi von Platz aus Böhmen, das Ansuchen stellte, seine Gruppe von Freunden des Okkultismus in Prag in eine martinistische Loge umzuwandeln. Diese Loge Nr. 12 florierte unter dem Namen Der Blaue Stern sehr bald und zählte bereits im Jahre 1893 acht Supérieurs Inconnus, von denen jeder eine Gemeinschaft von zehn bis fünfzehn Leuten leitete. Diese Loge wurde ein Anziehungspunkt für eine Reihe von Intellektuellen, darunter der Schriftsteller Julius Zeyer, zu dessen Ehren in Prag sogar eine Statue errichtet wurde. Noch heute bekannt ist ein anderes Mitglied, nämlich Gustav Meyer, der unter dem Namen Gustav Meyrink eine Reihe wichtiger esoterischer Romane schrieb. Damals war er noch Bankdirektor und hatte bereits Erfahrungen in der Theosophischen Gesellschaft gesammelt. 1893 war Meyrink übrigens auch noch in die Societas Rosicruciana in Anglia eingetreten, aus der schließlich der Orden der Goldenen Dämmerung (Golden Dawn) entstand.

1893 kam es dann zum in der Literatur so oft angesprochenen okkulten Krieg und »magischen Duell« zwischen Papus und Jules Bois. De Guaita und Papus waren von Gegnern als Anhänger einer sogenannten »schwarzen Rosenkreuzerei« diffamiert worden. Am lautesten tat sich dabei der Journalist Jules Bois hervor, der behauptete, dass de Guaita den exkommunizierten Abbé Joseph-Antoine Boullan mit auf Entfernung wirkenden magischen Giften ermordet hätte. Der durch seinen Roman Tief unten auch bei uns bekannt gewordene Dichter J.K. Huysmans unterstützte dabei Jules Bois bei diesen Anklagen. De Guaita verlangte, was man früher »Satisfaktion« nannte und einem Duell gleichkam. Huysmans zog es daraufhin vor sich zu entschuldigen, Bois hingegen hob den Fehdehandschuh auf. Gegen de Guaita sollte er mit der Pistole antreten, gegen Papus, der ein gewandter Fechter war, mit dem Degen. Auf dem Wege zum Duell mit de Guaita blieben die Pferde, die den Wagen mit ihm und seinen Sekundanten zogen, jedoch stehen, weigerten sich weiterzugehen und zitterten zwanzig Minuten lang vor Angst. Beim Duell gegen Papus drei Tage später, waren die »magischen« Wirkungen auf die Pferde noch schlimmer. Sie stürzten den Wagen um und Bois kam zerschunden, blutend und schmutzig an den vereinbarten Ort, wo er gegen den selbstsicheren Papus, der sogar einige schaulustige Damen mitgebracht hatte, keine Chance besaß. Nach zwei schweren Verwundungen am Arm wurde der Kampf abgebrochen und die beiden Duellanten zogen als neue Freunde ab.

Als bald darauf ein weiterer (magischer) Gegner von Papus starb, sah man wiederum dunkle magische Kräfte seitens Papus' am Werk. Dieses Abenteuer, das zum Ruhme Papus' viel beitrug, veranlasste ihn daraufhin zum Schreiben der Broschüre Kann man hexen?

Um sich seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, hatte er auch noch eine regelmäßige Kolumne im Figaro, wo er Physiognomik und Graphologie lehrte, damit seine »liebenswürdigen Leserinnen alle Geheimnisse« ihrer Freundinnen entdecken könnten. 1894 wurde Papus endlich zum Doktor der Medizin promoviert. Seine Dissertation über die »philosophische Anatomie« wird hierbei sehr gelobt. Ebenso wird er zum Militärarzt und Reserveoffizier ernannt. Schon ein Jahr später heiratet er Argence Mathilde Inard, die über ihre Mutter mit einer der nobelsten Familien des Elsaß verbunden war. Seiner Frau verdankte er aber nicht nur sein (temporäres) Herzensglück, sondern auch eine gewisse Wohlhabenheit. Sogar seinen »spirituellen Meister« Philippe Vachod, den weithin verehrten Maître Philippe lernte er durch sie kennen. Dieser war schon seit seiner Jugend als Geistheiler tätig gewesen, weshalb ihm trotz Studien ein medizinisches Diplom vorenthalten wurde, da er aufgrund illegaler Ausübung des Ärzteberufs vorbestraft war. Seine hauptsächlichen Heilmittel bestanden in Gebeten und dem Lesen der Evangelien.

Aber auch auf anderen Wegen wollte er etwas leisten und versuchte z.B. Diphtherie mit gezuckertem Wasser (zum Trinken und für Waschungen) zu heilen. Das Charisma dieses zart gebauten Mannes, der Jesus Christus als seinen persönlichen Freund ansprach, muss gewaltig gewesen sein, denn ausgebildete Ärzte wie Papus und Lalande (Marc Haven) waren von seinen Heilmethoden völlig überzeugt. Papus glaubte zwar anfangs noch, dass Philippe ihn verhext hätte, wandte sich ihm aber bald zu und verehrte ihn dann bis zu seinem Tode.

Der Einfluss von Maître Philippe ging aber noch weiter: Papus wandte sich mehr und mehr von der Magie ab, die Maître Philippe als »kriminell« einstufte und öffnete sich der Mystik und Jesus Christus, was in seinen späteren Werken sehr deutlich wird.

1895 wird Papus Mitglied im Order Of The Golden Dawn (Mitgliedsnummer 240), dem wohl bekanntesten aller magischen Orden der Neuzeit, die in Paris eine Loge unterhielt. Die Einweihung erfolgte durch Moira Bergson, der Schwester des Philosophen und Nobelpreisträgers Henri Bergson und Gemahlin eines der führenden Mitglieder der Golden Dawn, nämlich Samuel McGregor Mathers. Allerdings war Papus in diesem magischen Orden nicht sonderlich aktiv, wahrscheinlich weil Maître Philippe ganz allgemein gegen magische Arbeiten eingestellt war, und verlies diesen auch schon bald wieder.

In dieser Zeit war Okkultismus zur Mode geworden und der Martinistenorden stand auf seinem Höhepunkt. Auch im Ausland blühten die martinistischen Niederlassungen. 1896 kam es zu einem gegenseitigen Beistandsvertrag mit dem damaligen Illuminatenorden in Deutschland, der eine Neugründung nach dem historischen Vorbild des 18. Jahrhunderts darstellte. Gustav Meyrink, Karl Kellner, der spätere Gründer des Orientalischen Templer Ordens, der Magnetopath und Schriftsteller Leopold Engel sowie Theodor Reuß, der den Orientalischen Templer Orden berühmt-berüchtigt machen sollte, waren die herausragenden Gestalten dieser Gemeinschaft. Meyrink kam allerdings mit Reuß nicht sehr lange zurecht, der Illuminatenorden löste sich auf und so auch der Beistandsvertrag, der nach den ursprünglichen Intentionen »die mächtigsten Bruderschaften der abendländischen Tradition« vereinigen sollte. Die Verbindung zwischen Papus und Reuß sollte jedoch weiterleben.

Über Jollivet-Castelot war Papus auch mit dem schwedischen Dramatiker August Strindberg in Kontakt gekommen, der in Paris längere Zeit als Alchimist lebte. Später ist Strindberg dann auch Mitglied des ariosophischen Ordo Novi Templi geworden, der unter der Leitung von Lanz von Liebenfels stand, des Mannes, der laut Wilfried Daim »Hitler die Ideen gab«. Strindberg schrieb sogar alchimistische Artikel für die Zeitschrift L'Initiation. In eine der esoterischen Gruppierungen wollte er sich aber nicht drängen lassen, worauf er von Papus und Sédir schlussendlich fallengelassen wurde, was ihn sehr kränkte.

Nach einer mystischen Krise Anfang 1897 ging Strindberg schließlich nach Schweden zurück.

Papus war ebenso Mitglied der äußerst einflussreichen sogenannten H. B. of L. (Hermetic Brotherhood of Luxor) und in Briefkontakt mit deren Großmeister Peter Davidson. Aber auch diese Mitgliedschaft schien ihm nicht zu reichen, denn nun versuchte er in die Freimaurerei einzutreten. Nicht in den regulären Grand Orient de France, den er ja ständig wegen mangelnder »Magienähe« kritisierte, sondern in die misraimitische Loge Arc-en-Ciel, wo sich schon eine Reihe von Martinisten befand, die seinen Eintritt befürworteten. Trotzdem wurde sein Gesuch abgelehnt, wahrscheinlich aus Angst vor seiner Rednergabe, da man eine Übernahme durch ihn befürchtete. Zur selben Zeit begann Papus wieder mit einem neuen Projekt, dem sogenannten Union Idealiste Universelle, das von Eliphas Lévis Katechismus des Friedens inspiriert war. Es handelte sich um eine Friedensbewegung, die ihre Mitglieder unabhängig von Rasse, Religion, Nation und Geschlecht aufnehmen wollte. Obwohl Jollivet-Castelot von 30.000 Intellektuellen als Mitglieder sprach, sind nur wenige namentlich bekannt geworden. Sehr lobenswert war dabei das Eintreten der Union für den Überlebenskampf des armenischen Volkes. In diesem Jahr starb schließlich auch Stanislas de Guaita an den Folgen seiner Morphiumsucht.

Da Papus in Frankreich keine Zugangsmöglichkeit zur regulären Freimaurerei sah, ließ er sich - wann weiß man nicht genau - in den Swedenborg-Ritus von John Yarker einweihen, obgleich dies eigentlich ein Hochgradritus war, der einen regulären Feimaurer-Meistergrad voraussetzte. Yarker wurde dafür in den obersten Rat des Martinistenordens gewählt. Papus wiederum - als französischer Vertreter des neuen Ordens - eröffnete sogleich eine Loge namens I.N.R.l. in Paris. Dieser Ritus zog ebenso andere Okkultisten an, so z. B. Theodor Reuß, der im Juli 1901 bei Papus um eine Einweihung ansuchte.

Papus hatte schon lange versucht, seinen Martinistenorden nach Rußland zu bringen, wobei ihm die vielen in der Pariser Gesellschaft verkehrenden russischen Damen Beistand leisten konnten. Er sah wahrscheinlich die Möglichkeit, Einfluß auf den Zarenhof zu bekommen. Als nun der Zar mit seiner Familie im Herbst 1896 eine Europareise unternahm, schrieb Papus im Namen der französischen Spiritualisten eine »Botschaft« an das russische Volk und das Herrscherhaus, die in L'Initiation veröffentlicht wurde. Der russische Botschafter dankte per Telegramm dafür. Bald darauf begann die martinistische Loge in Rußland zu arbeiten.

Im Jahre 1900 kam es in Paris zu einem Internationalen Spiritistenkongress. Wahrscheinlich war dies der Höhepunkt für alle Spiritisten und die größte Propagandaoffensive zugunsten spiritistischer und spiritueller Bestrebungen. Alle, sogar Theosophen und Naturheiler, nahmen daran teil. Jahrhundertwenden mit den dazugehörigen Ängsten sind nun einmal das gedeihlichste Klima für religiöse und esoterische Ideen.

Doch zurück zu Rußland. Die Zarin, eine Frau die unter Depressionen litt, hatte in einem Buch aus dem 14. Jahrhundert mit dem übersetzten Titel Gottesfreunde gelesen, dass Gott fromme und gerechte Menschen - eben die Gottesfreunde - an die Herrscherhöfe schickt, damit sie in schwierigen Situationen mit Rat und Tat helfen. Da sie tief gläubig war, hielt sie ständig Ausschau nach solchen außergewöhnlichen Menschen. Über Papus wurden so Leute vom Zarenhof auf Maître Philippe aufmerksam gemacht, besuchten ihn und luden ihn alsbald nach Rußland ein. Für Papus wurde ebenfalls eine Vortragsreise organisiert, so dass er seinen Freund und Meister besuchen konnte. Fest steht, dass Papus dabei zumindest einmal das Zarenpaar traf. Maître Philippe hingegen war zwar am Hofe sehr beliebt, mit der Zarenfamilie kam er aber bei seinem ersten russischen Aufenthalt nicht zusammen.

Zar Nikolaus II. und seine Gemahlin hatten bereits vier Töchter, aber noch immer keinen Thronfolger. Auf Anraten baten sie daher, als sie 1901 wieder einmal in Paris waren, Meître Philippe zu sich. Nikolaus II. war sofort vom Charme des Franzosen gefangengenommen und lud ihn nach Rußland, dieses Mal jedoch in den Zarenpalast. Philippe ließ sich überreden und reiste, schwer überwacht von der russischen Geheimpolizei und misstrauisch beäugt, noch 1901 gen Osten. Der Zar erbat für Philippe vom französischen Staat sogar den medizinischen Grad, der ihm - wir erinnern uns - wegen unerlaubter ärztlicher Tätigkeit vorenthalten worden war. Das französische Erziehungsministerium hingegen sah in Philippe nur einen Scharlatan und verweigerte trotz der politischen Missstimmigkeit diesen Gefallen. Nikolaus ernannte ihn daraufhin zum Arzt der russischen Armee. Als dann Philippe schließlich der Zarin die Geburt eines Knaben prophezeite, stieg sein Einfluss noch weiter. Das war vielen Leuten am Hof natürlich nicht recht.

Gerüchte um spiritistische Sitzungen, wo Philippe den Zarenvater beschworen haben sollte - dieselbe Geschichte wurde später auch von Papus behauptet - wurden über ihn ausgestreut und z.B. auch vom französischen Botschafter in Moskau, der in diesem Zusammenhang eine recht zweifelhafte Rolle spielte, sogar noch bestätigt. Eine Scheinschwangerschaft der Zarin kurz nach der Prophezeiung des Thronfolgers unterminierte Philippes Stellung zusätzlich. Da aber das noch immer nicht ausreichte, ließ man Philippe und Papus wie auch die Martinisten kurzerhand zu jüdischen Freimaurern werden, was beim bekannten Antisemitismus des Zaren größeren Erfolg versprach. Hier spielt gleichfalls die Entstehungsgeschichte der berüchtigten Protokolle der Weisen von Zion Protokolle der Weisen von Zion Protokolle der Weisen von Zion hinein. Ebenso war das der Boden, der den Zugang des »rein russischen« Rasputin zur Zarenfamilie erleichterte.

1903 brach dann der Krieg zwischen Rußland und Japan aus. Papus prophezeite dabei den glorreichen Sieg der Russen bis spätestens 1905. 1905 war zwar der Krieg dann tatsächlich zu Ende, allerdings endete er mit der Kapitulation der Russen. Im Lande kam es in der Folge zu Aufständen und die russischen Martinisten riefen Papus zu Hilfe. Papus reiste tatsächlich nochmals zum Zaren und hier kommt es zu einer weiteren langlebigen, immer wieder aufgewärmten Legende. Papus soll in Gegenwart von Nikolaus II. in einer nekromantischen Operation den Geist des Zarenvaters Alexander III. beschworen haben. Dieser hätte dabei seinem Sohn dringend geraten, die beginnende Revolution niederzuschlagen, koste es, was es wolle. Die Geschichte kann schon allein deswegen nicht wahr sein, da Papus zum angegebenen Zeitpunkt gar nicht in Rußland war(!). Auch in seinen Tagebüchern findet sich kein Hinweis auf eine derartige Operation. Sein Kompagnon Marc Haven verfasste damals sogar ein offizielles Dementi. Trotzdem begann damit der endgültige Aufstieg von Rasputin, der sich gegen Papus wandte, »denn alles, was aus Europa kommt, ist kriminell und schädlich«. Die Martinisten wurden ebenfalls zurückgedrängt und der Grand Orient, also die offizielle Freimaurerei, breitete sich aus. Der Tod von Maître Philippe im selben Jahr (1905) tat ein übriges, um den Einfluss Papus' auf den Zarenhof einzuschränken. Aufrecht erhalten blieb lediglich eine Korrespondenz.

Selbst in Frankreich begann der Einfluss von Papus zu schwinden. Sein ehemaliger Mitarbeiter Barlet wollte die Hegemonie seines Meisters nicht länger ertragen und sann auf Umwälzungen im Ordre Kabbalistique de la Rose-Croix. Anstelle der Führung durch Papus wurde ein Direktorium gemeinsam mit Sédir und Barlet eingesetzt. Barlet blieb aber trotzdem nicht und setzte sich schließlich zu Max Théon in den Mouvement Cosmique ab. Schon vorher war die Ehe von Papus schiefgegangen und er glaubte sich mit Abwehrritualen vor Besessenheitszuständen schützen zu müssen. Auch Jollivet-Castelot und Victor-Emile Michelet zogen sich aus den hohen Ordensrängen zurück, da Papus sich nur noch wiederholen würde. Dieser leugnete das gar nicht, sondern meinte nur, dass zwar alles gesagt, aber bei weitem noch nicht alles verstanden sei. Wiederholung sei daher nötig. Nachdem im Martinistenorden die Schwierigkeiten für Papus immer größer geworden waren, entschloss er sich 1906, statt dessen den Swedenborg-Ritus, den er wie erinnerlich - von Yarker übernommen hatte - auszubauen und sich genehmere Mitglieder zu suchen. Eine eigene Zeitschrift L'Hiram wurde zu diesem Ziele begründet. Allerdings schien ihre Hauptaufgabe in der Polemik mit der regulären Maurerei bestanden zu haben.

1908 kam es nochmals zu einem großen Kongress, wo Papus wiederum seinen Rang als Führer der irregulären Freimaurerei und des Okkultismus bestätigt sah. Berühmte Leute kamen zusammen, darunter auch René Guénon. In einem zweiten Kongress im Anschluss, der die »spiritualistischen Freimaurerriten« versammelte, trat Theodor Reuß als Vertreter der deutschen Gruppierungen auf. Bei dieser Gelegenheit erhob er Papus in den 96. Grad und machte ihn zum französischen Grand-Maître National des Alten und Primitiven Ritus von Memphis-Misraim Das musste einem anderen Grand-Maître National, nämlich demjenigen von Preußen - und das war kein Geringerer als Rudolf Steiner - schwer missfallen haben.

Steiner, der ebenso Präsident des Großkonzils des Memphis-Misraim von Berlin war, verachtete Papus und sah in ihm mehr oder weniger bloß einen Schwarzmagier. Die magischen Zeitschriften der Zeit waren voll von diesen Kampfgeschichten, die Papus viel Kraft kosteten. Selbst die katholische Presse tat sich für einmal leicht, über die sonst als gefährlich erachteten Männer zu ironisieren.

Im Inneren des von ihm errichteten Ordenskonstruktes ging die Revolte gegen Papus jetzt erst richtig los. Der bekannteste der damaligen »Jungmagier«, die den Aufstand probten, war René Guénon. Ganz im Gegensatz zu dem was er später lehrte, als er die integrale Tradition in den Mittelpunkt stellte, hielt er damals mit seinen Freunden lange spiritistische Sitzungen ab. Dabei glaubten sie den Geist von Jacques de Molay, des letzten Großmeisters des Templerordens, beschworen zu haben, der ihnen eine Neugründung und seine Rächung auftrug. Ohne dass Papus davon etwas wusste, wurde von Guénon und dreien seiner Mitstreiter eine Neugründung des Templerordens vorgenommen, was einer inneren Spaltung der Martinisten gleichkam. Bei den spiritistischen Sitzungen meldeten sich dann auch noch Friedrich II. von Preußen sowie Cagliostro und Adam Weishaupt, der Führer der alten Illuminaten, und stellten ein ganzes Lehrgebäude aus biblischen, gnostischen und okkulten Fragmenten auf. Der plötzlich erfolgte Tod von Saint-Yves d'Alveydre, den Papus als seinen intellektuellen Meister ansah, verschärfte die Konflikte unter seinen Anhängern nur noch weiter, da sich jeder um die Nachfolge zu bemühen begann.

Saint-Yves d'Alveydre hatte eine Reihe von Büchern über die okkulte Geschichte der Menschheit geschrieben, mit dem sogenannten Archeometer einen Universalschlüssel aller Wissenschaften und Künste erstellen wollen, sowie das politische System der Synarchie erdacht, das der esoterischen Dreigliederung entspricht. Durch seine besonderen Beziehungen gelang es Papus, als geistiger Nachfolger anerkannt zu werden und sich das Archiv zu sichern, das er in einem Museum zugänglich machen wollte. Da flog die Geschichte mit dem erneuerten Templerorden auf, der im Schatten des Martinistenordens immer mächtiger geworden war. Guénon und seine Mitstreiter wurden aus dem Orden ausgeschlossen. Gleichzeitig begann die Stellung der Martinisten auch in Rußland zu wanken, und obwohl Papus gesundheitlich nicht mehr auf der Höhe war, reiste er dorthin. Viel konnte er allerdings nicht ausrichten, da man ihn schon wieder in Paris erwartete, um die getroffenen disziplinären Maßnahmen gegen die Neutempler durchzusetzen.

Ab 1910 begannen die magischen Bestrebungen in Frankreich ganz allgemein an Einfluss zu verlieren. Zu viele Scharlatane hatten die Gunst der Stunde für ihre Zwecke missbraucht, lautsprecherische aber nichtssagende Zeitschriften das Wohlwollen der Leser enttäuscht. Spiritistische Betrügereien waren an der Tagesordnung. Papus hatte sich mit spiritistischen Phänomenen und besonders mit Materialisationen eingehend befasst und kannte alle Taschenspieler- und Zaubertricks. Er warnte immer wieder vor Leichtgläubigkeit und empfahl den Interessierten strengste Vorsichtsmaßnahmen. Aber das schlechte allgemeine Bild musste auch auf ihn und seine Gruppierungen abfärben, was noch durch die internen Streitigkeiten verstärkt wurde. Um 1912 hatte Papus das Heft seiner Orden nicht mehr in der Hand. Er hatte Téder (Charles Detré) mit der Führung des Obersten Rates des Martinistenordens betraut und dieser hatte sich selbständig gemacht. Die Theosophische Gesellschaft begann in Frankreich ebenfalls wieder das Terrain zurückzugewinnen, das sie Jahre zuvor durch Papus verloren hatte. Der Weg dazu führte über die freimaurerische Gruppierung des Droit Humain, wo auch Frauen zugelassen waren und in welchem die Martinisten einen großen Einfluss besaßen. Die englische Präsidentin des Droit Humain, die überaus dynamische Annie Besant, war gleichzeitig Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft und diese Verbindungen begann sie nun auch in Frankreich einzusetzen. So konnte sie z.B. in Paris einen Vortrag im großen Amphitheater der Sorbonne halten, wohingegen Papus sich mit viel unbedeutenderen Foren zufriedengeben musste. Die von ihm begründeten Periodika hatte er ebenso im Laufe der Zeit anderen überlassen müssen.

Le Voile d' Isis war führungsmässig an Sédir gegangen, L'Initiation taufte er in Mysteria um und vertraute die Leitung einer Gesellschaft der Freunde von Saint-Yves d'Alveydre an.

Im Ausland sah es nicht besser aus. In Italien gab es Reibereien und in Rußland näherte sich die Revolution mit Riesenschritten. Auch in Österreich-Ungarn stand die Situation um nichts besser. 1909 suchte Herbert Silberer, einer der Begründer der Wiener Psychoanalyse um eine Charta an, wollte aber nicht über die Wiener Loge gehen. Silberer, der durch sein Werk Probleme der Mystik und ihrer Symbolik Probleme der Mystik und ihrer Symbolik Probleme der Mystik und ihrer Symbolik noch lange vor C.G. Jung, mit dem er korrespondierte, zum Pionier der psychologischen Betrachtung der Alchimie wurde, beging später Selbstmord. Ein Freund Silberers und ebenfalls Martinist war Leutnant (später Fregattenkapitän) Friedrich Schwickert, der unter dem Pseudonym Sindbad astrologische Fachwerke schrieb. Andauernde Streitigkeiten innerhalb der Loge trieben ihn zur Demission. Obwohl Papus sich nicht als Prophet fühlte und Prophezeiungen auch gar nicht schätzte, hatte er eine Vorahnung des Ersten Weltkrieges, die er in etlichen Aufsätzen um 1913 zu Papier brachte. Diese vorausschauenden Befürchtungen veranlassten ihn, sich mehr und mehr mit den synarchistischen Bestrebungen seines intellektuellen Meisters Saint-Yves d'Alveydre zu beschäftigen und soziale Reformen zu fordern. Dabei darf der politische Einfluss Papus' nicht zu gering geachtet werden. Pierre Geyraud, Chronist der französischen esoterischen Gruppierungen, behauptet sogar, dass Ministerpräsident Aristide Briand ein Supérieur Inconnu des Martinistenordens war. Marie-Sopie André, die sich im allgemeinen eher skeptisch gibt, hält das überraschenderweise für gar nicht unmöglich. Emil Szittya wiederum, der »Weltenvagabund«, der Papus mehrmals traf, erwähnt Gerüchte, wonach Papus vom Zaren zu Spionagezwecken und panslawistischen Agitationen in den Balkan entsandt worden sei. Dabei bringt er, ohne allerdings kausale Zusammenhänge zu schaffen, den Mord an dem österreichischen Thronfolger durch die Serben und damit verbundene angebliche theosophische Seancen in ein Gleichzeitsverhältnis. Fest steht jedenfalls, dass Papus, der Ordensauszeichnungen sehr schätzte, etliche balkanische Sterne und Kreuze an die Brust geheftet bekam. Auch James Webb sieht Papus als politisch einflussreich an.

1914 beginnt der Erste Weltkrieg und schon Ende August erhält Papus den Einberufungsbefehl, den er sofort befolgt. Als Sanitätsmajor wird er an die Front gesandt. Leider hielt aber die Gesundheit von Papus dem Winter in den Schützengräben nicht stand. Im Februar des Folgejahres wurde er von der Front wiederum abgezogen und zum Chef des medizinischen Dienstes in der fünften Sektion in Paris bestellt. Doch sein Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends und ein Jahr später musste er jegliche Arbeit einstellen. Papus glaubte sich verhext, wobei er sich aber nicht wehren wollte und ahnte seinen nahen Tod. Eine Vision des längst verstorbenen Maître Philippe war dafür ausschlaggebend. Am 10. Oktober 1916 hatten Unbekannte Nadeln in Form eines gestürzten Kreuzes und eines Sarges an seine Wohnungstür geheftet. Eine Woche später geschah das gleiche nochmals.

Am 25. Oktober schließlich bekam Papus auf den Stufen zum Krankenhaus, in das er sich begeben wollte, einen Bluthusten (aufgrund einer wohl fortgeschrittenen Tuberkulose) und starb einige Stunden darauf an den Folgen in Paris.

Sein Leichenbegängnis zog viele Trauergäste und Neugierige an. Noch heute wird sein Grab am Friedhof Père Lachaise (93. Abteilung) angeblich jeden Tag mit frischen Blumen geschmückt. Mehr noch als zu Lebzeiten rankten sich nach seinem Tod die Legenden - oder sind es Wahrheiten? - um Papus. So hat er nach Aussagen des Malers O.D.V. Guillonnet angesichts eines Bildes, das dieser von der Spionin Mata Hari gemalt hatte, bevor sie berühmt wurde, bereits gespürt, dass sie Tod und Verderben bringen würde. Ebenso erzählt ein alter Kompagnon von Papus, Paul Schmid (Dace), von einem Gespräch mit ihm, wonach er und de Guaita gemeinsam Blei in Gold verwandelt hätten. Allerdings hätte de Guaita das dazu notwendige Projektionspulver im Umschlag eines alten Alchimiebuches gefunden. Aus diesem künstlichen Gold sei dann die breite Uhrkette von Papus gefertigt worden.

Sein Sohn Philippe sowie Robert Ambelain, ein ebenfalls bedeutender französischer Esoteriker und Buchautor, haben schließlich den Martinistenorden weitergeführt, der auch heute noch besteht. Allerdings verfügten weder Philippe noch Ambelain über das Charisma Papus' und der Orden büßte ebenfalls viel von der früheren Ausstrahlung ein.

Die Lehre von Papus brauchen wir hier nicht eigens darzustellen, denn seine zwei bedeutendsten Bücher, deren Nachdrucke im öffentlichen Buchhandel erhältlich sind, sind bestens geeignet, in die Gedankenwelt von Papus und diejenige der Magie generell einzuführen. Für besonders wertvoll halten wir seine Ausführungen zum analogischen Denken, das die Grundlage jeglichen magischen Verständnisses darstellt. Zu den Grundlagen der okkulten Wissenschaften ( Grundlagen der okkulten Wissenschaften ( Grundlagen der okkulten Wissenschaften (Erstausgabe: Paris 1888, deutsche Ausgabe: Leipzig, Wien, New York 1926) hatte schon Sédir einst gemeint: »Dieses Buch ist als Gedächtnisstütze und Suchkompendium konzipiert. Es kann schon für sich allein jahrelang als Arbeitsgrundlage dienen und eine ganze Bibliothek ersetzen«.

Die Wissenschaft der Magier (Erstausgabe: Paris 1892, deutsche Ausgabe: Leipzig 1986) wurde von Papus selbst als seine beste Broschüre bezeichnet und hatte das Ziel, auf relativ wenigen Seiten einen gültigen Überblick über die Geheimwissenschaften zu geben.

Da dieser Bereich in den beiden nachgedruckten Werken ausgeklammert bleibt, sei hier noch kurz daran erinnert, dass Papus keinen Alleinvertretungsanspruch für die esoterische Medizin verfolgte, sondern die Krankheiten und ihre Heilmittel differenziert betrachtete. So unterschied er rein physische Krankheiten, die er mit allopathischen Mitteln behandelte, Krankheiten des Astralkörpers, die er mit der Homöopathie zu kurieren versuchte, und schließlich Krankheiten des Geistes, die er nur durch theurgische Methoden und das Gebet als heilbar ansah. Dazu lehrte er, dass der Körper aus unzähligen lebendigen Zellen besteht, von denen jede einzelne ein individuelles Bewusstsein besitze. Die Rolle der medizinischen Behandlung sei es nun, mit diesen »Bewusstseinen« Kontakt aufzunehmen, ihre Energien neu zu beleben und ihnen den Ort anzuzeigen, an dem sie selbständig Heilung finden können.
In seinen bekanntesten Büchern spiegeln sich alle Eigenschaften des neueren französischen Okkultismus deutlich wider: Belesenheit, das Suchen nach Gefühlstiefe, kritische Grundhaltung sowie Synkretismus.

Papus war zeit seines Lebens davon überzeugt, dass geheimes esoterisches Wissen mittels einer geheimen Linie okkulter Adepten weitergegeben wird und zählte sich selbst auch zu diesen »Auserwählten«.

Bekannteste Werke:
»Le Tarot des Bohémiens, Le Plus Ancien Livre du Monde« (Paris 1889/1911),
»Traité Methodique de Science Occulte« (1891),
»Le Diable et L'occultisme« (1895),
»L'illuminisme en France (1767-1774)« (Paris 1895),
»Le Zohar« (Paris 1895),
»Die Wissenschaft der Magier
und deren theoretische u. praktische Anwendung« (1896/1978),
»Le magie et L'hypnose« (Paris 1897),
»Grundriß der synthetischen Physiologie« (1905/1921),
»La Cabale« (Paris 1901),
»Papus-Tarot«, Tarot-Kartenset, bestehend aus 78 Karten (1909),
»Die Kabbala« (EA: 1910/1921/1925 u.a.),
»Der Gedanke, sein Mechanismus und seine Betätigung« (1921),
»Die Grundlagen der okkulten Wissenschaft« (1926),
»Tarot der Zigeuner« (1979/ 3. Auflage 1985)